Ein manischer, opulenter und grandioser Roman
von Gérard Otremba
Wild, wüst, brachial, hemmungslos, grenzüberschreitend, radikal, nachdenklich. Das alles ist Lutra lutra, der neue Roman von Matthias Hirth, das alles verkörpert sein Protagonist Fleckenstein, kurz Fleck genannt. Lutra lutra spielt 1999, das Jahr des Fischotters, dessen lateinische Name für den Titel des Romans steht. Fleck ist Anfang 30, wohnt in einer deutschen Großstadt, hat ein paar Tausend Mark von seiner verstorbenen Oma geerbt und bricht mit seiner bürgerlichen Existenz. Fortan verjubelt er das Erbe und lässt sich kopfüber in das Nachtleben fallen, wohlwissend am nächsten Morgen nicht mehr halbwegs fit auf einer Arbeitsstelle erscheinen zu müssen.
„Ausklingende Technowelle, Kultur der Clubs und Afterhours. Das komplette Wochenende Party mit chemischem Support. Niemals zuvor hat der Nachfrage nach Exzess ein derart ausdifferenziertes Angebot gegenübergestanden. Fleck nutzt es gründlich. Oft ist er viermal die Woche unterwegs.“
Gleichzeitig entdeckt Fleck seine Homosexualität und binnen weniger Seiten findet sich der Leser in einem Schwulenporno wieder. Zugegebenermaßen ermüdet das bis in alle Einzelheiten durchexerzierte, manchmal auch obszöne Sexualleben Flecks auf die Dauer von über 700 Seiten ein wenig. Doch lernt man auf dieser langen Strecke viele exzentrische Homosexuelle kennen, wie zum Beispiel den Intellektuellen Meinhard (eine der tragischen Figuren dieses Romans), dessen philosophische Exkurse wahre Hochgenüsse sind. Oder den leicht irren, auf Fleck magisch wirkenden Jenia. Die intensiven gesellschafts-politischen Einlassungen und Dispute einer abgefahrenen Künstler-Clique, an die Fleck im nächtlichen Treiben gerät, sind von nicht geringerer Qualität und Bedeutung. Doch das Dolce Vita ist nicht Flecks einziger Antrieb. Er reflektiert das Sozialverhalten des Menschen und hinterfragt die Moral mit provokativem verhalten. Mit Fleck demaskiert der Münchner Autor Matthias Hirth aber auch die Oberflächlichkeit der hedonistischen Bewegung der Spät-90er (eine Spaßgesellschaft ohne natürliche Freude) und nimmt den überbordenden Selbstdarstellungshype des Internets vorweg, der 1999 noch keine wirkliche Rolle spielte. Hinter Flecks Lust-Fassade lauern die Entfremdung sowie die essentielle Suche nach Liebe. Das amouröse Lust-Prinzip reicht Fleck jedoch nicht, den ultimativen Kick möchte er im endgültigen Bösen und im Schmerz erfahren.
„Fleck legte die Zeitung weg und wusste, dass es diese Art Prüfung war, die ihm fehlte. Ein für das Leben maßstabsetzender Schmerz, eine Erfahrung voller Angst und Einsamkeit, die sämtliche Illusionen eines freundlichen Alltags auslöschte.“
Als er das junge, extrovertierte Callgirl Sandra kennenlernt, bietet sich ihm die Gelegenheit, den „Bruch mit Sinn und Vernunft“, den Blick auf die dunkle Seite des Mondes zu vollziehen, mit Schuld und Sühne-Gedanken im Dostojewskij-Ausmaß. Auf die detailbesessenen Sexszenen des Romans Lutra lutra muss man sich einlassen (können). Darüber hinaus hat Matthias Hirth einen komplexen, perfekt komponierten, psychologischen Gesellschaftsroman mit zeitgeschichtlichen und philosophischen Kolorit veröffentlicht. Fleck wird sicherlich nicht als die sympathischste Figur in die deutsche Literaturgeschichte eingehen. Aber eine extreme, die Jahrtausendwende in diversen Facetten widerspiegelnde. Einen exzessiveren Roman auf höchstem literarischem Niveau kann man nicht schreiben. Für Sounds & Books ein großer Anwärter für mindestens die Longlist des Deutschen Buchpreises.
Matthias Hirth: „Lutra lutra“, Voland & Quist, Hardcover, 736 Seiten, 978-3-86391-136-2, 25 €.